0. Einleitung
Drei Momentaufnahmen:
- Vor einigen Jahren besuchte ich das Wohnheim der
Lebenshilfe. Ich traf mich mit meinem Schulfreund Jürgen
Brodka. Er hatte nach dem Abitur im Zivildienst bei der
Lebenshilfe seine Berufung gefunden, war so nach kurzzeitigem Studium zurück zur Lebenshilfe gekommen und ist
dort als Betreuer bis heute geblieben. Nun führte er mich
durch das Wohnheim und zum Kaffeetisch seiner Betreuten,
wo ich mich mit den Bewohnern des Wohnheims unterhielt.
Sie fragten, was ich mache, was ich von Beruf sei. Ich antwortete: „Ich bin Philosoph“. Gegenfrage einer jungen Frau: „Was
macht ein Philosoph?“ Meine Antwort: „Der denkt darüber
nach, warum wir alle da sind“. Kommentar: „Das tue ich auch
jeden Morgen.“
- Oktober 2010, Himalaya, Höhe über Meeresspiegel etwa
5000 Meter, die Luft wird dünn. Niemand lächelt, der mir
beim Aufstieg zum Mt. Everest begegnet, die Strapazen stehen
allen im Gesicht geschrieben. Zwischen den Geröllhalden
kommt eine Gruppe in einem unglaublichen Marschtempo
auf mich zu. Ein junger Mann mit Beinprothese strahlt mich
an. Ich schaue verwundert hinterher und sehe den Aufdruck
auf den Jacken der Mannschaft: Eine Behindertensportgruppe
aus den USA war an mir „vorbeigeschossen“.
- Ende Mai 2011: Als eine der letzten Arbeiten an der
vorliegenden Dokumentation lasse ich das Textprogramm
„Behinderte“ suchen, um diesen Begriff gegen „behinderte
Menschen“ auszutauschen, sofern es sich jeweils nicht um
ein Zitat oder um eine historische Bezeichnung etc. handelt.
Zunächst habe ich das Ansinnen von Werner Steinkirchner
als etwas übertrieben empfunden, aber mit jeder Änderung
und jedem Vergleich wird mir der Unterschied klar – Begriffe
machen Bedeutungen, der „Behinderte“ ist keine eigene
Spezies, er gehört zu uns, er ist ein Mensch mit Behinderung.
Zeitlich holt die vorliegende Dokumentation zunächst sehr
weit aus, bis in die Tage der Neandertaler. Der Grund liegt
darin, dass auch heute noch die ganz überwiegende Zahl
der Zeitgenossen meint, in Urzeiten und in den frühen
Hochkulturen hätte man behinderte Menschen umgebracht
oder ausgesetzt. Dieses Klischee ist so nicht haltbar.
In den alten Chroniken finden sich einige wenige Anmerkungen
am Rande zur Situation geistig behinderter Menschen in
Fürth. Sofern die Familie oder die Fürsorge die Kosten übernahm, kamen in der Regel „Geisteskranke“ und teilweise
Epileptiker in die Erlanger Pflegeanstalt, mit Behinderung geborene evangelische Kinder nach Neuendettelsau. Schwierig
einzuschätzen ist die Zahl jener Menschen mit Behinderung,
die bis zur Gründung der Lebenshilfe unter mehr oder weniger günstigen, nicht immer menschenwürdigen Umständen
vor Ort blieben, es dürfte aber die Mehrzahl gewesen sein.
Die Zäsur des Nationalsozialismus muss auch im hier gegebenen Rahmen ein Teil der Darstellung sein. Nur vor diesem
Hintergrund ist die Leistung der Lebenshilfe zur Schaffung
einer besseren Welt für uns alle richtig zu ermessen.
Die Vereinigung “Lebenshilfe für das geistig behinderte
Kind” erkämpfte seit 1958 dem Bildungsanspruch geistig
behinderter Menschen öffentliches Gehör und veranlasste
die Bundesländer seit 1960 zu Schulgründungen und zur schulrechtlichen Absicherungen der “Sonderschule für geistig Behinderte”. Sie ist damit die einzige Schulform, deren Entstehen fast ausschließlich Elterninitiativen zu verdanken ist. Betroffene gründeten die Lebenshilfe, deren Tätigkeit und Ziele direkt aus der Situation behinderter Menschen abgeleitet ist. Bedeutend ist weiterhin, dass die Konzeption der Lebenshilfe vom Normalfall einer gesellschaftlichen Aufteilung der Lebensbereiche ausgeht: Leben in der Familie - Betreuung und Erziehung in Tagesstätten und Schulen Arbeiten in der Werkstätte. Nicht immer kann die Familie die Betreuung ihrer behinderten, mitunter pflegebedürftigen Angehörigen leisten, es wird immer die Heimunterbringung geben. Aber es ist ein großer Unterschied, von welchem Normalfall ein Betreuungskonzept ausgeht. Gesetzesänderungen kamen oft genau im rechten Moment zur Hilfe, aber trotzdem ist das, was die Lebenshilfe Fürth e.V. in 50 Jahren geschaffen hat, nicht nur innerhalb unserer Stadt ein Glanzpunkt an gemeinnütziger Vereinsarbeit. Der Leser kann den Fürther Weg vom Betreuungsnachmittag in einer Privatwohnung zu einem Betreuungsnetzwerk in vielen speziellen Gebäuden und Räumlichkeiten nachvollziehen. Die Veränderungen der Behindertenpädagogik lassen sich ebenso verfolgen. Thomas Peddinghaus, Referent eines Mitgliederforums in den Dambacher Werkstätten im Oktober 2010, fasste die Entwicklung so zusammen:“Von der Pflege und dem Beschützen hin zum Normalisierungsprinzip der 70er Jahre, von der proklamierten Selbstbestimmung in den 80er Jahren über Integration, Assistenz und Empowerment der 90er Jahre hin zum Inklusionsgedanken der Gegenwart“ (mit Assistenz ist hier eine selbstbestimmte Behindertenhilfe gemeint; Empowerment bezeichnet Strategien und Maßnahmen, die geeignet sind, den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung zu erhöhen; Inklusion wird im Kapitel XIV erklärt). Nicht jeder konnte in der vorliegenden Darstellung genannt werden, manche Angaben zu einzelnen Einrichtungen waren lückenhaft, manche widersprüchlich. Die Lebenshilfe war zu sehr von ihrer Aufgabe in Anspruch genommen, als dass ihre Mitarbeiter eine umfassende Chronik hätten führen können. Aus chronistischen Gründen habe ich in der Regel Institutionen und Regelungen etc. auch dann in der Vergangenheitsform beschrieben, wenn sie heute noch existieren bzw. gelten - man muss auch an eventuelle Leser späterer Zeiten denken. Unterstützung zur Abfassung dieser Arbeit erhielt ich von vielen Seiten, genannt seien vor allem Hannelore Schreiber von der Lebenshilfe, aber auch Matthias Honold vom Archiv der Diakonie Neuendettelsau sowie die Mitarbeiter des Stadtarchivs Fürth. Ohne die Berichterstattung der Fürther Nachrichten und vor allem des Mitgliederbriefes „Lebenshilfe Fürth aktuell“ hätte die Entwicklung der Lebenshilfe in Fürth nur sehr unvollständig nachgezeichnet werden können. Ihnen allen gilt mein Dank. Fürth, im Mai 2011 Dr. Alexander Mayer
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