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Die Neuendettelsauer „Blödenanstalt“ blieb der einzige Zweig der Diakonissenarbeit, für den (seit 1863) eine Kirchenkollekte erbeten wurde, 1864 entstand ein Neubau für die „Blödenanstalt“. 1865 betreuten 14 Diakonissen 54 behinderte Menschen. Nach dem Kauf des Schlosses Polsingen 1866 führte man eine Geschlechtertrennung durch, Polsingen wurde mit Männern belegt, die Frauen blieben in Neuendettelsau. 1892 weihte ein Nachfolger Löhes die dritte Neuendettelsauer Behinderteneinrichtung in Bruckberg ein, die Zahl der Pfleglinge vergrößerte sich von 293 im Jahre 1890 auf 581 im Jahre 1895 und 817 im Jahre 1909, bis zum Jahr 1918 wurde der 1000. Pflegling aufgenommen.

2. Die Anstalt als Konzept In Neuendettelsau strebte man keine gesellschaftliche Reintegration der behinderten Menschen an, Ziel war eine lebenslange Unterbringung in der Anstalt, weil sie nach damaliger Ansicht nur dort angemessen gefördert werden könnten. Behinderte Menschen wurden in Neuendettelsau als bildungsfähig betrachtet, was außerhalb der Anstalt keinesfalls selbstverständlich war. Die logische Folgerung aus dieser Einsicht war der Auf- und Ausbau des differenzierten Anstaltschulwesens.

Neuendettelsauer Pflegeanstalt um 1927 (Repro A. Mayer, Original im Archiv Diakonie Neuendettelsau).

Ende des 19. Jahrhunderts neigte man der Meinung zu, dass sich geistig behinderte Menschen erst durch die Angebote eines Anstaltslebens positiv entwickeln könnten: „Solche Kinder verkommen draußen in der Welt und in den Familien“. Löhe selbst meinte, dass das Dasein behinderter Menschen ohne angemessene Förderung und

ohne geeigneten Lebensrahmen zur Lebensuntüchtigkeit und zur Isolation führe, dass dagegen eine Einrichtung, die für die behinderten Menschen konzipiert war und auf deren Bedürfnisse und Defizite eingehen konnte, neue und wertvolle Lebensmöglichkeiten eröffne. Die Anstalt konnte dem Menschen mit einem eingeschränkten geistigen Horizont eine für ihn überschaubare „Welt in der Welt“ bieten. In der Anstalt ergaben sich Einsatz- und Entfaltungsmöglichkeiten, die „draußen“ undenkbar waren. Von den einfachsten Handgriffen bis zu komplexeren Aufgaben in Werkstätten und Versorgungsbereichen stand ein vielfältiges Arbeits- und Beschäftigungsprogramm offen. Ein seinerzeit beispielhaftes „Behinderten-Schulwesen“ bot Bildungs- und Erziehungsmöglichkeiten, wie sie in den herkömmlichen Lebensbereichen nicht vorhanden waren. Neuendettelsau wich von unserem heutigen Verständnis insofern ab, als die Diakonissen in einer Art Lebensgemeinschaft mit den ihnen anvertrauten behinderten Menschen lebten. Die Diakonisse war wie eine Mutter fast ständig auf ihrer Station, ein Schichtwechsel, der völlig neue Gesichter hereinbrachte, fand nicht statt. Die jeweilige Gruppe bzw. Station war für die Diakonissen nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch eigener Lebensbereich; oft schliefen die Diakonissen bei ihrer Gruppe oder lebten nur wenig entfernt in einem Schwesternheim. Heute werden mit dem Begriff „Anstalt“ negative Assoziationen verbunden. Als Preis für die Förderungs- und Lebensmöglichkeiten und ein Zuhause, in dem sich der behinderte Mensch in der Regel sein Leben lang geborgen wissen durfte, werden genannt: anonyme Auf bewahrung, Entpersönlichung des Einzelnen, Einbindung in einen geregelten oder gar genormten Lebens vollzug, Unterbindung von Individualität und Selbst ver wirklichung, Abtrennung von der freien Gemeinschaft des Dorfes oder der Stadt. Behinderte Menschen waren weitgehend isoliert von der Umwelt, Verbindungslinien über die Anstaltsgrenzen konnten kaum gezogen werden. Schon 1860 führte die Leitung eine Anstaltskleidung ein, die geringe Verbindung nach „draußen“ ließ eine Sonderbekleidung offenbar unproblematisch erscheinen. Löhe selbst bezeichnete die „Blödenanstalt“ in Neuendettelsau als „schöne Insel“, was die Abgrenzung zum Dorf Neuendettelsau sinnbildlich kennzeichnete. Diese Abwendung von der Welt hing nicht nur mit den behinderten Menschen, sondern im Wesentlichen mit der Lebensform der Diakonissen zusammen. Dem interaktiven

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