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III. Kulturbruch: Die staatlich organisierte Ermordung geistig behinderter Menschen 1. Sozialdarwinismus und behinderte Menschen 1859 erschien in London das Buch „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life” (deutscher Kurztitel: “Die Entstehung der Arten”). Der Autor Charles Darwin bezog sich nur auf Pflanzen und Tiere, der deutsche Zoologe Ernst Haeckel übertrug 1868 in seiner “Natürlichen Schöpfungsgeschichte” den Kampf ums Dasein auf die Völkergeschichte. Zur natürlichen Auslese fügte nun Haeckel die künstliche Auslese hinzu, wobei er auf die Spartaner hinwies, die schwächliche Kinder getötet hätten. In den Jahren vor der Jahrhundertwende häuften sich die Vorschläge der sogenannten Sozialdarwinisten, die die Selektionstheorie auf Menschen anwenden, vereinzelt kam es schon zu Sterilisationen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden Sterilisierungen, „Ausmerzung“ von Erkrankten und anderer angeblicher „Volksschädlinge“ vor allem in den Zirkeln der Extremen gefordert. Wenn auch der Sozialdarwinismus in Deutschland eine große und vor allem einflussreiche Anhängerschaft hatte, so bezog der Großteil seiner Anhänger diese Ideologie doch zunächst ganz überwiegend auf das internationale Verhältnis der um die Weltgeltung konkurrierenden Nationen und Völker. Die “Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene” zählte 1914 nur 350 Mitglieder, hauptsächlich Universitätsprofessoren. Solange Deutschland eine Großmacht auf dem Sprung zur Weltmacht war, wandte sich diese Ideologie nur abgeschwächt nach innen. Angesichts eines körperbehinderten Kaisers und eines geistig behinderten bayerischen Monarchen (bis 1913) waren entsprechende Ansichten nur bedingt gesellschaftsfähig.

2. Wendepunkt Erster Weltkrieg: Erlebnis und Wirkung Der Erste Weltkrieg führte zu einem taktischen Desaster auf allen Seiten. Man hatte in Deutschland die Vorstellung eines “frisch, fröhlichen Krieges”, eines kurzen Feldzuges, in dem es auf Mannesmut und Heldentum ankomme. Die Realität des ersten industriellen Krieges war eine andere. Diese Realität und ganz besonders der Ausgang des Krieges verstörte die Öffentlichkeit, viele waren Anhänger einer weltgeschicht-

Werkstatt für behinderte Menschen in Bruckberg (Diakonie Neuendettelsau) um 1925. (Repro A. Mayer, Original im Archiv Diakonie Neuendettelsau).

lichen “Missionsaufgabe” des deutschen “Wesens”. Innere Feinde und innere Schwächen wurden für die Niederlage verantwortlich gemacht. Eine neue Generation, gehärtet in den „Stahlgewittern“ (Ernst Jünger) des Ersten Weltkrieges, galt nun als auserwählt zur Revision der Weltgeschichte. Zu dieser Revision konnten behinderte Menschen keinen Beitrag leisten, waren hinderlich. 1920 erschien die Broschüre “Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens” von Karl Binding (Professor für Psychiatrie) und Alfred E. Hoche (Professor für Rechtswissenschaft). Hier heißt es zu geistig behinderten Menschen: “Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke... Es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit aller die unersetzliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels- und Achtels-Kräfte. Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Leistungsfähigkeit...“ - Diese Zeilen lassen sich nicht entschuldigen, verstanden werden können sie durch die Situation nach dem Ersten Weltkrieg: Die vor dem Krieg für unmöglich gehaltene schwere Niederlage, Reparationsleistungen, revolutionäre Unruhen und die stillschweigende Übereinkunft fast aller, eine Revision dieser Niederlage - wie auch immer - anstreben zu müssen. Die NS-Propaganda konnte durchaus mit Einvernehmen rechnen, wenn sie beispielsweise formulierte: „Während des Weltkrieges wurde für einen Idioten in einer staatlichen Anstalt mehr Geld zur Verfügung gestellt als für einen Frontsoldaten...“ Den damaligen Zeitgeist in der allgemeinen nationalen Depression zeigte auch eine Umfrage in Reaktion auf die Schrift der beiden Autoren: Um deren Thesen zu widerlegen, verschickte der Direktor der sächsischen Landespflegeanstalt Großhennersdorf 220 Fragebögen an die Eltern der geistig behinderten Kinder seiner Anstalt. Von den 162 Eltern, die antworten, waren nur 19 ganz eindeutig gegen die mit „Lebensverkürzung“ umschriebene Tötung.

3. Das Sterilisierungsgesetz Kurze Zeit nach der „Machtergreifung“, am 14. Juli 1933, wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Die offizielle Gesetzgebung berief sich in den Ausführungskommentaren auf Hitlers „Mein Kampf “: Wer

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