Festtagsseite des Poppenreuther Altares

Geschichte und Beschreibung[1]

In vielen Beschreibungen des Poppenreuther Altares in der Kirche St. Peter und Paul findet sich als Erklärung der Figuren des Mittelschreines in der sogenannten Festtagsseite die Evangelisten Markus, Johannes und Matthäus. Diese willkürliche Evangelistenauswahl geht auf Paulus Ewald zurück, der dies in seiner „Geschichte der Pfarrei Poppenreuth" [2] den Lesern anbietet. Die Mittelfigur wird wegen des Kelchattributs als St. Johannes erklärt. Weit schwieriger ist die Bestimmung der beiden äußeren Personen in diesem Mittelschrein.

Bisweilen wurde deswegen unterstellt, mangels Platzes seien nur drei Evangelisten nachträglich in diesen Schreinkasten eingefügt worden. Jedoch wird jene These eindrücklich widerlegt, da im aufwändigen Goldhintergrund des Flügelaltarkastens die Umrisse der drei angeblichen Evangelisten passgenau ausgespart sind. Die drei Personenplastiken waren also immer schon in dieser Anordnung für das Flügelretabel bestimmt.

 
Detail "Füße" der drei Evangelisten im Poppenreuther Flügelretabel

Auffällig ist, dass nur die Mittelfigur Schuhe trägt, während die beiden äußeren Figuren schlicht barfuß daher kommen, Damit erlangen die beiden äußeren Plastiken den Rang von Aszendenzfiguren. Sie flankieren eine Person, die man auch aufgrund ihrer Kleidungsausstattung (Mantel mit Kragenbesatz, der eine hochwertig Ornamentmusterziselierung aufweist) als höhergestellt und gewichtiger anschauen muss.
Den Restauratoren Anja Maisel und Ingo Trüper ist die Beobachtung zu danken, dass aufgrund der verblüffenden Ähnlichkeit zwischen dem Lindenhardter St. Veit und dem Poppenreuther - vermeintlichen St. Johannes - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die gleiche Werkstatt anzunehmen ist. Die endgültige Klarheit, dass es sich bei der Poppenreuther Zentralfigur im Altarschrein um keinen Johannes handelt gibt die Inschrift auf dem Mantelsaum dieser Figur wieder. Dort heißt es: O heiliger her und mertert und … - edler riter san sebas … - so gros dein verdienen bit wie… . Die Unterbrechungen sind den Mantelfalten bzw. Überwürfen geschuldet, verdunkeln aber nicht den Sinn. Im Flügelretabel steht also zentral ursprünglich ein heiliger Sebastian, der als Märtyrer und edler Ritter näher gekennzeichnet wird.

Der Legende nach ließ Kaiser Diokletian Sebastian an einen Baum binden und von numidischen Bogenschützen erschießen, als er von dessen christlichem Glauben erfuhr. Sebastian wird aber nicht bloß als Märtyrer verehrt, sondern auch als Pestheiliger. Eine Pestepidemie in Pavia soll nämlich im Jahr 680 erloschen sein, nachdem man seine Reliquien hierher brachte und durch die Straßen trug. Damit gilt er gegenüber dem anderen Pestheiligen Rochus als der ältere. Als 1464 das Kloster Bebenhausen in Württemberg von Papst Pius II. einen - tatsächlich ins Spätmittelalter zu datierenden - Pfeil erhielt, war dies eine Gabe, die natürlich auf die Märtyrerlegende des Heiligen Bezug nahm. Bald wurde dieser Pfeil als Sebastians-Pfeil verehrt. „Sebastianspfeile” trug man früher als Schutz gegen die Pest - der „anfliegenden Krankheit”.

 
Kalchreuther Tafelbild mit St Sebastian (2.von links) der einen Pfeil als Attribut in Händen hält

Üblicherweise kennt man heute das Martyrium des Sebastians in der Form eines dürftig bekleideten (häufig nur mit Lendenschurz) jungen Mannes, der gefesselt an einem Baum oder Pfahl lehnt und von Pfeilen durchbohrt wird. Diese Bilder könnte man gewissermaßen dem Genre der Aktmalerei zu ordnen. Dieser Sebastiantypus ist den Vorbildern antiker Statuen entlehnt, kommt in der Renaissance auf und ist aufgrund der Thematik nun auch religiös akzeptiert. Die älteren Darstellungen des Sebastian zeigen den Heiligen im Gewande, der zur näheren Kennzeichnung als Attribut Pfeile in der Hand hält. Von dieser Art findet sich eine Darstellung in der Kirche zu Kalchreuth. Dort wurden zwei Flügel eines Tafelretabels zu einem Bild zusammengefügt, das heute an der südlichen Chorwand hängt. Die zweite Person von links ist ein heiliger Sebastian mit Pfeil in der Hand. Analog zum Poppenreuther Pendant trägt auch er ein modisches Beinkleid. Rechts neben dem Sebastian findet sich auf dem Kalchreuther Tafelbild zufälligerweise ein Johannes, näher gekennzeichnet durch den Kelch.

Dies führt zur Frage nach dem Kelch beim Poppenreuther Sebastian. Hier ist der Kelch sekundär zugefügt worden, als man dem Heiligen die Pfeile aus der Hand entfernte. Einige Bruchstellen und Beschädigungen, sonderlich im Bereich des kleinen Fingers, lassen erkennen, dass der Kelch nachträglich eingesetzt wurde. Mit dem Austausch der Attribute von Pfeilen zu Kelch verbindet sich aber ein bemerkenswerter Wandel. Die Figur des Sebastian scheint nicht mehr vonnöten gewesen zu sein und so konvertiert der alte, „vorreformatorische” Pestheilige zum „evangelischen” Johannes, dem das Abendmahl nun für`s Seelenheil wichtiger ist.

Die Enthüllung des Laurentius

 
Die Werktagsseite des Poppenreuther Flügelretabels mit Laurentius und Stephanus

Das Flügelretabel der Poppenreuther Kirche St. Peter und Paul weist auf der inneren Werktagsseite (zugeklappter Zustand) noch zwei weitere Tafelbilder mit Heiligen aus der Entstehungszeit des Altarschreines auf: St. Laurentius und St. Stephanus.

Im Vergleich der beiden mittleren Heiligenfiguren St. Laurentius und St. Stephanus ergeben sich gewisse Auffälligkeiten, wenn nicht gar Unstimmigkeiten. So ist zum Ersten die unterschiedliche Gewandung der beiden Heiligen zu nennen. Der rechte, Stephanus, trägt einen einfachen Mantelüberwurf über dem weißen Untergewand, während Laurentius einen goldapplizierten Mantel hat, der außerdem noch eine liturgische Befransung in schwarz, weiß und rot an Ärmeln und Mantelsaum aufweist. Auch sein Halsabschluss besteht aus einem großzügigen Schalkragen. Weiterhin verfügt das weiße Unterkleid des Laurentius über einen vornehm kleidsamen Pluderärmel. Selbst die Frisuren lassen noch einen Rangunterschied zwischen den beiden Heiligen erkennen. So trägt Stephanus eine aus dem mönchischen Zusammenhang bekannte Tonsur. Das Scheren des Haupthaars gilt als Geste der Demut und Unterwerfung. Dagegen posiert Laurentius mit der langen Haartracht des Freien und Adeligen.

Die bereits im Altarschrein der Festtagsseite beobachtete Ungleichgewichtigkeit der Personen setzt sich also in den Tafelbildern der Werktagsseite fort. Diese unterschiedliche Rangordnung wird ein weiteres Mal betont, wenn man Laurentius auf der heraldisch gesehen höherrangigen Position der rechten Seite sieht (also nicht vom Betrachter, sondern von den Personen aus). Des Weiteren fällt die ungeschickte Haltung des den Rost haltenden Armes auf. Die Darstellung scheint von der Perspektive überfordert, was aber umso mehr verwundert, weil der Künstler genau diese bei dem im Mantelbausch drei Steine als Symbol seiner Steinigung tragenden Stephanus beherrscht.

Unerklärlich ist auch die völlig gerade, mit Gold akzentuierte, Mantellinie zwischen den beiden Laurentiushänden. Um diese straffe und gerade Mantelfalte zu erhalten, müsste die linke Hand den Mantelüberwurf festhalten. Dies ist aber nicht der Fall, sodass die gerade Linie wie durch Zauberei entsteht. Schräg rechts - oberhalb der den Rost haltenden Hand - gibt es im Blaugrundigen eine kleine dreieckige Unebenheit, die sonderlich gegen das Licht auffällt.

 
Infrarotaufnahme der Laurentiusfigur, die unter dem Rost Pfeilspitzen erkennen lässt

Diese Unebenheit war der Ausgangspunkt einer Infrarot-Untersuchung, die 2014 im Rahmen der Altarsäuberung und -renovierung in Auftrag gegeben wurde. Mit Hilfe von Infrarotstrahlen ist es möglich in tiefere Farbschichten vorzudringen, um eventuelle Vorzeichnungen freizulegen. Dabei wurde offensichtlich, dass Laurentius ursprünglich Pfeile in Händen hielt und der Rost von einer sekundären Übermalung herrührt. Die Pfeilspitzen befinden sich im Blaugrundigen, die Pfeilschäfte zwischen den beiden Händen und damit wird nun auch die unmotiviert auftauchende gerade Linie des Mantels erklärlich, die ganz offensichtlich von den Pfeilschäften der Ausgangsmalerei herrührt. Die Übermalung mit dem Laurentiusrost konnte auch im Rankwerk des Postamentes nachgewiesen werden.

Die Schlussfolgerung aus diesem Befund kann daher also nur lauten: Die hochrangig dargestellte Person auf der linken inneren Tafelmalerei ist kein Laurentius sondern ursprünglich zweifelsfrei ein Sebastian, näher bestimmt durch das Attribut der Pfeile. Damit ähneln sich die Erkenntnisse auf Festtags- und Werktagsseite des Poppenreuther Flügelretabels in frappanter Weise. Auf beiden Seiten findet man in herausragender Position und durch entsprechend werthaltige Kleidungsattribute aufgewertet eine Sebastiansfigur.

Mit dem Poppenreuther Flügelretabel stellt sich also ein ursprünglicher Sebastiansaltar vor.

  • Auf der inneren Festtagsseite mutierte Sebastian durch Beifügen eines Kelches zum Johannes,
  • auf der Werktagsseite veränderte der Sebastian durch Beifügen eines Rostes seine Identität zu einem Laurentius.

Das Poppenreuther Flügelretabel - der Pest-Altar aus dem Nürnberger Sebastianspital

Der heilige Sebastian ist nur in einer Nürnberger Kirche als Hauptpatron bezeugt, der Sebastianskapelle im Sebastiansspital bei der Großweidenmühle. Die Einrichtung eines Pestlazarettes wurde immer dringlicher, sonderlich nach dem Massensterben von 1486.
Das Haus sollte nur zu Zeiten der Pestilenz für Nürnberger Bürger, Dienstboten und in Nürnberg sich aufhaltenden Fremden gebraucht werden. Da die Medizin den Pestepidemien hilflos gegenüberstand, bildete die Isolation der Kranken die einzige wirkungsvolle Maßnahme gepaart mit der Anrufung des Pestheiligen. Zum Beten gegen die Pest war in der Kapelle des Lazaretts der Sebastiansaltar aufgestellt.

Wie bereits geschildert, zeigt das Poppenreuther Retabel ursprünglich den Pestheiligen Sebastian an prominenter Stellung sowohl an Fest- als auch an Werktagsseite. Es kann sich also hierbei nur um den alten Altaraufsatz aus dem Sebastiansspital handeln.
Die außerordentlich kostbare und aufwändige Gestaltung des Poppenreuther Retabels ist erklärlich, weil es sich bei dem Sebastiansspital um eine reichsstädtische Prestigeangelegenheit handelte. Die Einrichtung gilt als eine der ältesten seiner Art in Deutschland. Die veritable Größe des Retabels von 1,81 m Höhe und 1,46 m Breite lässt auch nur an einen Hauptaltar denken und würde den Rahmen für jeden Nebenaltar sprengen.

Damit kommt die zeitliche Einordnung nahe an die von Josef Dettenthaler vermutete Entstehungszeit des Poppenreuther Retabels von 1518 [3]

Der Abriss des Sebastianspitals führt zu einem überflüssigen Sebastiansaltar

Doch schon bald gab es wegen des Pestspitals von St. Sebastian Unstimmigkeiten mit dem Ansbacher Markgraf. So beschwerten sich Casimir und Georg, der Markgraf zu Brandenburg und der Burggraf zu Nürnberg über den befestigten Bau am 23. November 1526 beim kaiserlichen Kammergericht.[4] Letztendlich ging es dabei wohl um das Geleitsrecht und die hohe fraischliche Obrigkeit.

Als sich die Gegensätze mit dem Markgraf Albrecht Alcibiades noch verstärkten, wurde dem Nürnberger Rat der massive Bau des Sebastiansspital vor den Stadtmauern immer ungelegener. Sie befürchteten, ein Angreifer könnte sich im Windschatten der festungsartigen Anlage an die Stadt heranmachen und bei einer Belagerung den Bau als Deckung nutzen. Um wieder ein freies Schussfeld zu erlangen, ließ schließlich der Rat der Stadt 1552 im 2. Markgräflichen Krieg das Sebastianspital mit anderen Gebäuden nahe der Stadt niederbrennen. Das Hospital für Pestkranke hatte also gerade einmal ein halbes Jahrhundert bestanden.

Es lässt sich aber denken, dass sämtliches Inventar nicht mit verbrannt wurde, sondern vorher noch in Sicherheit gebracht worden ist. Gerade bei dem wertvollen Retabel für den Hauptaltar der Sebastianskapelle ist dies naheliegend. Nun war aber das Sebastiansspital eine kommunale Einrichtung und keiner der großen Kirchen zugehörig. Mit großer Wahrscheinlichkeit stellte man daher das sakrale Inventar der niedergerissenen Einrichtung im Hl. Geist-Spital unter.

Für den Sebastian als identifikationsstiftende Figur des Retabels gab es erst einmal keine Verwendung mehr und so erklärt sich nun die Umgestaltung. Aus dem Sebastian der Festtagsseite machte man einen Johannes mit Kelchattribut. Auf der Werktagsseite wurde aus dem Sebastian mittels eines dazu gemalten Rostes eine Laurentiusfigur. Diese Verwandlung wurde offensichtlich mit großem Bedacht unternommen, denn mit einem Sebaldus und einem Laurentius war offensichtlich, dass es sich um Besitztum der Reichsstadt Nürnberg handelte.
Das Spital wurde dann 1554 in verkleinerter Form und ohne Kapelle wieder aufgebaut und für das ehemalige Sebastiansretabel gab es hinfort keine Verwendungsmöglichkeit mehr. Als dann ein Jahrhundert später der 30-jährige Krieg vorüber war und die Poppenreuther Kirche bis auf das Gemäuer verwüstet und geplündert da stand, konnte der in der Stadt Nürnberg überflüssige Altar in der Kirche St. Peter und Paul eine neue Verwendung finden.

Einzelnachweise

  1. Ausführungen nach Christian Schmidt-Scheer: „Neue Erkenntnisse am Poppenreuther Hochaltar“ in: „nota bene (NB) - überliefernswerte Mtteilungen, Randbemerkungen, Notizen und Skizzen aus St.Peter und Paul Poppenreuth“, 2016, S. 42 - 57
  2. „Geschichte der Pfarrei Poppenreuth - von den ältesten Zeiten bis jetzt”, Nürnberg 1831, Seite 70
  3. vgl. Josef Dettenthaler „Die Tafelbilder des Hochaltars in Poppenreuth - ein Werk des Dürerschülers Hans Springinklee” in „Fürther Heimatblätter” 1980, Nr.2; Seite 37 ff
  4. „Deliciae topogeographicae Noribergenses oder Geographische Beschreibung”, Seite 54

Siehe auch

Bilder