I. Behinderte Menschen vor Beginn der Behindertenpädagogik
1. Urgeschichtliche Zeit (45.000-20.000 v. Chr.)
Die Quellenlage erlaubt zwar einerseits eine nur sehr lückenhafte Beurteilung der generellen Verhältnisse, andererseits lassen sich doch einige überraschende Einzelergebnisse finden,
die uns eine eher unerwartete Beurteilung dieser „primitiven“
Gesellschaften bieten. In einer Ausgrabung von ca. 45.000
Jahre alten Neandertalern im nordöstlichen Irak konnten die
sterblichen Überreste eines etwa 35-40 Jahre alten Mannes
gefunden werden, der durch eine solche Vielzahl von (an sich
verheilten) Verletzungen schwer behindert gewesen sein muss
und kaum noch einen nennenswerten Beitrag zur Sicherung
seines Lebensunterhaltes oder dem seiner Gruppe leisten
konnte - aber trotzdem war es ihm möglich gewesen, alle seine
Verletzungen auszuheilen und danach noch viele Jahre weiterzuleben. Anscheinend wurde er von anderen Mitgliedern seiner Gruppe mitversorgt, obwohl sie davon rein materiell gesehen wahrscheinlich kaum einen Nutzen hatten. Die Fürsorge
für kranke und behinderte Gruppenmitglieder lässt sich in
vielen weiteren Funden in West- und Mitteleuropa belegen.
Von besonderem Interesse in unserem Zusammenhang ist
ein Fund auf der Krim: Dort wurde von „primitiven“
Neandertalern ein etwa zweijähriges Kind pietätvoll bestattet, das mit großer Wahrscheinlichkeit geistig behindert war (aufgrund Hydrocephalus). Die Eltern und die
Stammesgemeinschaft hatten es also keineswegs verstoßen.
Parallelen zu diesen Befunden finden sich in räumlich
weit entfernten Fundstätten nordöstlich von Moskau und
in Westfrankreich (Dordogne). Verschiedene Funde deuten
darauf hin, dass Menschen mit Behinderungen möglicherweise eine besondere Beachtung und Behandlung durch ihre
Mitmenschen erfahren haben, da die Gräber vergleichsweise
aufwendig gestaltet waren. Auf jeden Fall müssen behinderte
Menschen genauso wie verletzte und kranke Kinder und
Jugendliche eine echte Chance gehabt haben, zu überleben
und das Erwachsenenalter zu erreichen. Dies war bei den
die eiszeitlichen Lößsteppen und Tundren durchziehenden
Mammutjägern nur möglich, wenn sie in ihren Gruppen die
dafür notwendige Fürsorge und Pflege erhielten.
Es sind zwar keine verallgemeinerbaren Aussagen darüber möglich, wie behinderte Menschen in diesen frühen
Gesellschaften in der Regel behandelt wurden. Man kann
entsprechende Ergebnisse wie folgt zusammenfassen: „Mit
der noch weitverbreiteten Klischeevorstellung, dass Schwache,
Kranke und Behinderte unter den rauen, durch den täglichen
schweren Kampf ums Überleben geprägten Sitten der urgeschichtlichen Menschen keine Überlebenschancen gehabt
hätten, lassen sich die hier zusammengestellten Befunde aber
sicher nicht vereinbaren.“
(Ludwig Reisch).
2. Die alten Hochkulturen und die Antike Der Beginn der Weltgeschichte im engeren Sinne - also in überlieferter Form - wird in der Regel um 3000 vor Christus angesetzt. Im alten Orient wurden die Flusstäler des Nils sowie von Euphrat und Tigris urbar gemacht, schon von diesen ältesten Hochkulturen gibt es Belege und Hinweise
für den Umgang mit behinderten Menschen. Aus dem Alten Mesopotamien sind genügend schriftliche Quellen bekannt, um einen gewissen Einblick in den Umgang mit behinderten Menschen zu jener Zeit zu gewähren. Den alten Texten zufolge versuchten die staatlichen Stellen und die Tempel, leicht behinderte Menschen, Taube und Blinde zu beschäftigen. Sie wurden weitgehend in die Gesellschaft integriert und konnten anscheinend auch höhere Verwaltungsposten erreichen. Auch die individuellen Getreidezuteilungen deuten auf eine prinzipielle Gleichstellung hin. Belege zu schwerbehinderten und geistig behinderten Menschen fehlen jedoch. Die Mythologie dieser frühesten Hochkulturen thematisierte durchaus Behinderungen und weist beispielsweise Blinden den Beruf des Musikers und Lahmen jenen des Goldschmieds zu. Die Behinderung selbst wurde dabei nicht als Strafe, sondern als Laune der Götter interpretiert. Etwa im 12. oder 11. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung - also vor über 3000 Jahren - entstanden die sogenannten Weisheitslehren von Amenemope. Sie waren eine Grundlage der altägyptischen Ethik, Bestandplan des Lehrplans an den Schulen und enthalten folgende Zeilen: -“Lache nicht über einen Blinden und verspotte nicht einen Zwerg! Erschwere nicht das Befinden eines Gelähmten. Verspotte nicht einen Mann, der in der Hand Gottes [geistig behindert] ist...“ Diese pädagogischen Texte lassen vermuten, dass behinderte Menschen sehr wohl mit Spott rechnen mussten (vor dem in manchen altägyptischen Perioden allerdings auch sonst fast nichts sicher war), dieses Verhalten aber von den moralischen Autoritäten nicht gutgeheißen wurde. Die Ursache für diese Behinderungen entziehen sich nach Meinung Amenemopes menschlicher Einsicht und Erkenntnisfähigkeit, da sie allein dem Willen Gottes entspringe. Ein Urteil in Form einer Verhöhnung stehe daher dem Menschen nicht zu. Nach altägyptischer Vorstellung würden Behinderungen mit dem Tod wieder vom Menschen genommen, der Mangelzustand sei also nur ein sehr kurzzeitiger, da das irdische Leben lediglich eine „Stunde“ im Vergleich zur eine Ewigkeit dauernden jenseitigen Existenz darstelle. Auf dieser 3500 Jahre alten Stele wird ein vermutlich an den Folgen von Kinderlähmung leidender Türhüter der Göttin Astarte dargestellt, wie er mit Frau und Sohn der Göttin Ischtar Opfer darbringt. Die Votivgabe war wohl vom Türhüter namens Rama selbst in Auftrag gegeben worden. Er sah anscheinend keinen Anlass, die Behinderung zu beschönigen. (Repro A. Mayer).
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