seits auf die Bremse und andererseits auf das Gaspedal zu
treten, was im Vorstand der Lebenshilfe - inzwischen war
Karl Reinmann wieder 1. Vorsitzender (von 1971 bis 1989)
- zunächst zu Irritationen und gewissen Ängsten führte, die
sich in entsprechendem Briefverkehr und Sondersitzungen
des Vorstandes niederschlugen.
Tatsächlich hatte man in der Lebenshilfe durchaus
Bedenken in Bezug auf die Reprivatisierung: Der Status
der behinderten Kinder könnte verschlechtert werden,
wenn sie nicht wie andere Kinder in eine öffentliche
Schule gingen; der auf die Lebenshilfe zukommende
zusätzliche Verwaltungsaufwand würde nur zum Teil
durch das Sonderschulgesetz abgefangen werden; die
Suche nach geeigneten Lehrkräften müsste eventuell der
Verein übernehmen; die Bindung von Vereinskapital zur
Zwischenfinanzierung würde ebenfalls angesichts der weitreichenden Planungen zu Problemen führen. Auf der anderen Seite: Angesichts der möglichen Ersparnis von drei
Millionen Mark gab die Stadt der Lebenshilfe weitgehende
Hilfezusagen.
Derweilen präsentierte Architekt Bernhard Heid die
Planungen für die Schule mit zehn Klassenräumen.
Die Baupläne hätten nun bei der Regierung eingereicht
werden müssen, wurden aber zurückgehalten, um die
Reprivatisierung noch vorher abzuwickeln. Da auch andere kommunale Sonderschulbetreiber die entsprechende
gesetzliche Regelung wahrgenommen hatten, waren die
beteiligten staatlichen Stellen mit einer Vielzahl von
Reprivatisierungsanträgen überhäuft und nahmen zu diesen Anträgen mittlerweile eine ablehnende Haltung ein.
Im November 1971 führte die Lebenshilfe unter den
Erziehungsberechtigten eine Unterschriftenaktion durch,
um die Reprivatisierung aus Gründen der Anbindung an
das Bildungszentrum zu fordern. Am 27. Dezember 1971
ging der entsprechende Antrag der Lebenshilfe an die
Regierung von Mittelfranken.
Mittlerweile stand der Rohbau des ersten Bauabschnittes
der „Werkstatt für geistig Behinderte“ kurz vor der
Fertigstellung, was die Argumentation gegenüber der
Regierung erleichterte, die im Übrigen noch einmal die
Grundkonzeption der Lebenshilfe zusammenfasste: „Wir
planen den Bau eines Bildungs- und Betreuungszentrums
für geistig Behinderte. Ein solches Zentrum muss folgerichtig auch eine Sonderschule für geistig Behinderte
einschließen. Die lückenlose Bildung und Betreuung der
Behinderten soll kontinuierlich von der Früherfassung
bis zum Berufsschulalter gewährleistet sein, ... dabei
soll von dem Grundsatz ausgegangen werden, dass den
Behinderten die familiäre Nestwärme so lange wie möglich erhalten bleiben soll. Erst wenn die Eltern verstorben
sind oder andere zwingende Gründe es notwendig machen, sollen die Behinderten zur Erhaltung ihres bisherigen Lebenskreises in unserem Wohnheim Aufnahme
finden.“ Abgesehen davon malte Vorsitzender Reinmann
- sicherlich mit stillschweigendem Einverständnis der
Stadt Fürth - die bestehende öffentliche Sonderschule in
den düstersten Farben.
4. Fertigstellung und Bezug der Werkstätten Am 27. Oktober 1971 feierte man im kleinen Kreis Richtfest der Beschützenden Werkstatt, das Betongebäude an der Zirndorfer Straße stand nun im Rohbau. Die Finanzierung konnte als gesichert bezeichnet werden, die Kosten - damals auf 2,1 bis 2,5 Millionen Mark geschätzt - wurden durch Zuschüsse von Land, Bezirk, Kommune und Landkreis, von der Aktion Sorgenkind und von der Bundesanstalt für Arbeit, die auch den erforderlichen Maschinenpark zur Verfügung stellte, mitgetragen. Trotzdem musste die Lebenshilfe enorme Eigenmittel aufbringen, um die Gesamtkosten decken zu können. Der Werkstattbau mit einer Grundfläche von 1.000 Quadratmetern konnte allen behinderten Menschen „echte Industriearbeit“ garantieren. In Fürth entstand die damals größte Werkstätte dieser Art in Bayern. Sie unterschied sich insofern von früheren Werkstätten, als nach Fertigstellung eine „echte Produktion“ aufgenommen werden könnte, so ein damaliges Statement. Mit Bescheid vom 20. März 1972 genehmigte die Regierung von Mittelfranken der Lebenshilfe, eine private Sonderschule zu betreiben. Als Gründe wurden von der Regierung unter anderem angegeben: „Es wird sich voraussichtlich günstig auswirken, wenn die in Fürth bestehenden und geplanten Einrichtungen zur Förderung geistig Behinderter in einer Hand liegen. Die Eltern der Kinder, die gegenwärtig die öffentliche Sonderschule für geistig Behinderte in Fürth besuchen, haben sich unterschriftlich mit einem Wechsel in die beantragte private Sonderschule einverstanden erklärt“. Im April 1972 gab es deswegen auf der Jahreshauptversammlung mehrere Gründe zum Feiern: Die Beschützende Werkstatt war im Rohbau fertig und der Errichtung der privaten Sonderschule stand nichts mehr im Wege, so dass die Provisorien in der Marienstraße und in Dambach mit rund 80 Schülern in absehbarer Zeit dem Ende zugingen. Der Verein feierte (verspätet) sein zehnjähriges Jubiläum, und Karl Reinmann skizzierte auf der Versammlung die Entwicklungsgeschichte, die von schwierigen Anfängen gezeichnet gewesen sei: „Es war ein mühevoller Weg, bis das Eis bei den Behörden gebrochen war“. Der Beginn sei schon deshalb so schwer gewesen, weil es Anfang der 60er Jahre „keine Grundlagen für die Hilfe des geistigbehinderten Kindes gab“. Gesetzesänderungen wie das Sonderschulgesetz von 1966 und das Arbeitsförderungsgesetz von 1970 brachten Unterstützung, so habe die Bundesanstalt für Arbeit alleine 600.000 Mark für die Beschützende Werkstatt beigesteuert. Im April 1972 beantragte die Lebenshilfe bei der Stadt Fürth, ihr das Erbbaurecht am Grundstück Aldringerstraße 4 (früher Zirndorfer Straße 114) einzuräumen, unter anderem, weil der Grundstücksnachweis eine wesentliche Voraussetzung zur Genehmigung der Errichtung von schulischen Einrichtungen durch die Regierung von Mittelfranken war. Zum 1. August 1972 übernahm die Lebenshilfe Fürth die Sondervolksschule für geistig behinderte Menschen wieder vollständig. Neuer Leiter wurde Herbert Meyer, der seit 1970 in der Sonderschule unterrichtete. Im September 1972 besuchten 52 Knaben und 30 Mädchen die Schule.
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