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LIEBE MITBÜRGERINNEN UND MITBÜRGER, LIEBE FREUNDE DER FÜRTHER ALTSTADT! Einige tausend Bürgerinitiativen kämpfen heute in der Bun­ desrepublik Deutschland engagiert mehr oder weniger erfolg­ reich für oder gegen die verschiedensten Ziele: für Einrich­ tung von Kinderspielplätzen und Jugendzentren, für Ver­ mehrung des Kulturlebens, für soziale Randgruppen und Denkmalschutz ebenso wie gegen Kernkraftwerke, Land­ schaftszersiedelung, persönliche Bereicherung mächtiger Interessengruppen auf Kosten der Allgemeinheit oder auch gegen so manche Stadtplanungsvorhaben. Trotz unterschiedlicher, oft völlig gegensätzlicher Zielvor­ stellungen wirken doch immer wieder die gleichen Faktoren als Auslöser für das solidarische Handeln des Individuums in der jeweiligen Gemeinschaft: Unfähigkeit, Bornierheit und In­ kompetenz bei Behörden, Parteiengeklüngel. Profitgier und unkontrollierte Fehlentwicklungen. Angst vor dem bloßen Verwaltetwerden und vor der daraus resultierenden Aufgabe der individuellen Freiheit. Gemeinsam ist also allen stets ein hohes Maß an Betroffenheit. Das Phänomen Bürgerinitiative freilich ist nicht neu, es hat bereits Geschichte und Tradition. Es findet sich immer dort, wo ein grundsätzlicher Mangel sichtbar wird sei er objektiv vorfindbar oder subjektiv empfunden. Neu daran ist das öffentliche Interesse bzw. die Skepsis auf Seiten der vom Bürgerprotest betroffenen Institutionen. Wurde organisierter Bürgergroll früher oft nicht ernst genommen, weil er nicht effektiv genug war. so scheint der sprichwörtliche deutsche Duckmäuser, der brave Untertan von einst, auszusterben, und der Staatsbürger von heute mehr über seine Bürger­ rechte und detaillierte Möglichkeiten ihrer Durchsetzung zu wissen. Sein Engagement ist im besten Sinne politischer ge­ worden. Die breite Front organisierter Bürgerinitiativen einer­ seits und das lebhafte, prinzipielle, freilich nicht immer positiv zustimmende Interesse der Gesellschaft daran anderseits sprechen eine deutliche Sprache. Automatisierte, unmenschliche und kompliziert-unverständ­ liche Behördenentscheidungen und deren gleichzeitige werbeästhetische Aufbereitung durch KommunikationsProfis (z.B. Hochglanzprospekte über Kernkraftwerke, chice Stadtplanungsausstellungen zur Selbstdarstellung kommu­ naler Verwaltungen) haben zu Unglaubwürdigkeit und - als Reaktion darauf - zu Mißtrauen und Abwehr geführt. Wer­ bung mag im kommerziellen Bereich wichtig sein, im politi­ schen Bereich ist sic verhängnisvoll (siehe die unfreiwillige Wahlkampfparodie zur vergangenen Bundestagswahl!) Zudem glaubt sich der Bürger in den kommunalen und über­ regionalen Parlamenten nicht mehr echt vertreten, er vertritt sich deshalb logischerweise selbst und unmittelbar. Die vor­ handenen institutionalisierten Formen bürgerschaftlicher Mitwirkung - Wahlen. Bürgerversammlung, Volksbegehren werden als nicht ausreichend erkannt; ihr pseudodemokrati­ scher Alibicharakter wird mitunter allzu deutlich. Der Bürger hat durch diese persönliche Eigeninitiative und das Mit­ engagement gleichermaßen Betroffener erfahren, daß auch auf diese Weise berechtigte Bürgerinteressen zumindest teil­ weise durchzusetzen sind. Der Freiheitsraum in dieser Demo­ kratie ist größer als je zuvor. Das ist gut so. Gut und selbst­ verständlich aber ist dann auch, daß man eine Freiheit, die man als neu und weitreichend erfahren hat, nicht wieder aufgeben will. Es gibt wohl wenige Gründe dafür (etwa die organisatorisch nötige Delegation), diese Erfahrung und die damit übernom­ mene Verantwortung unmenschlichen, technokratischen Be­ hörden, schönrednerischen Werbemanagern und unkriti­ schen. ideologisch oder parteistrategisch fixierten Politikern allein zu überlassen. Das Schlagwort vom „emanzipierten Bürger” sollte nicht mehr länger bloßer Verbalismus blei­ ben. 2

Ein wichtiger Teil der Alltagsarbeit von Bürgerinitiativen besteht somit auch darin, den Grad der allenthalben existen­ ten Entfremdung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, d.h. Ent­ scheidungen von Behörden oder Privatinstitutionen zu kriti­ sieren und womöglich zu korrigieren, oft in Zusammenarbeit mit ihnen, vielfach - notgedrungen - auch gegen sie. Dieses informelle, aber doch demonstrative Mißtrauensvotum gegen Stadt und Staat ist legitime Verhaltensweise, die freilich auf der Gegenseite mangels Konfliktfähigkeit und kompetenter Sachautorität als renitentes Aufmucken, revoluzzerhattes Gebaren oder gar „systemveränderndes Aufwiegeln" inter­ pretiert wird. Und doch müssen auch und gerade die kom­ munalen und staatlichen Institutionen lernen, daß politisches Duckmäusertum (wiedas preußisch-absolutistische „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht” es vorzuschreiben bemüht war) und soziale Apathie Relikte aus vergangener Zeit sind, die in unserer Gegenwart keine Berechtigung mehr haben. So ist es nicht nur legitime, sondern sogar notwendige Auf­ gabe jeder Bürgerinitiative, durch breite Aufklärung, detail­ lierte Sachinformation und individuelle Motivation zur Reali­ sierung ihrer jeweiligen Konzeption beizutragen - gegen alle vorhandene Behördenskepsis und etwaige Verwaltungswill­ kür. Mit Radikalismus hat das wenig oder gar nichts zu tun es sei denn, man verstünde den Begriff wieder in seiner ur­ sprünglichen Bedeutung, die da hieß: dem Übel an die Wurzel zu gehen, statt es oberflächlich an seinen Symptomen zu bekämpfen. Auch das Motto der Bürgervereinigung Altstadtviertel St. Michael, „Projekt einer Wiederbelebung”, kann sich leider nicht nur durch nüchtern-sachliche Argumentation allein ver­ wirklichen lassen; demonstrativer, durchaus emotionaler Protest (siehe „Fall Schindelgasse" und Aktion ..Autos weg vom Waagplatz"!) gehört hier ebenso zu dieser Konzeption wie die freilich angenehmeren, publikumswirksamen, auch an das Gefühl appellierenden Veranstaltungen ä la Grafflmarkt. Und doch bedarf es zu allen Aktivitäten der Altstadtbürger­ initiative einer breiten Basis. Vor allem die Altstadtbewohner selbst sollten doch erkennen, daß gerade auch ihr Einsatz und ihre Mitgliedschaft für den Erfolg aller Anstrengungen not­ wendig sind. Privat- und Geschäftsleute sollten gleicher­ maßen aktiv an der bewußten Gestaltung ihrer gemeinsamen urbanen Umwelt teilhaben. Denn allen muß - ob aus unmittel­ barem Eigcnintcressc oder grundsätzlicher Erkenntnis - an jeglicher Art von Steigerung des Wohn- und Freizeitwerts und damit der allgemeinen Attraktionsfähigkeit der Altstadt und so der gesamten Innenstadt Fürths gelegen sein. Werden Sie deshalb Mitglied in der Bürgervereinigung oder stehen Sie uns auch nur durch Ihren persönlichen Rat und Einsatz zur Seite; auf jeden einzelnen kommt es nämlich an! Bedenken Sie: die Fürther Altstadt geht uns alle an! Denn wo bürgerliches Unbehagen an (Fehl-)Entscheidungen der Verwaltungsbürokratiesich in konstruktive Kritik umsetzt, in aktive Teilnahme (nicht nur passive Anteilnahme), da ist ein Höchstmaß an staatsbürgerlicher Identifikationsbcrcitschaft erreicht. Und die grundgesetzlich geregelte Bindung der Staatsgewalt an den Willen des Volkes (Art. 20/2 GG) bleibt damit nicht nur graue Theorie. Das Volk als Souverän ist nicht nur bei Wahlen alle paar Jahre zum Handeln aufgerufen. Es hat permanent mitzuwirken bei allen lebenswichtigen Fragen, indem es seinen Willen deutlich artikuliert. Bürgerinitiativen sind eine mögliche Form, diesen Bürger­ willen darzustellen. Sie haben einen verfassungsrechtlich gesicherten Status als eine effektive Organisationsstruktur des souveränen Volks. Und vor allem auch für sie gilt umso mehr diese Maxime staatsbürgerlicher Grundhaltung: engagierte Bürger sind unbequeme, und unbequeme sind gute Bürger! Auch wenn so manchem diese Einsicht großes Unbehagen bereiten mag...

Ihre Bürgervereinigung Attstadtviertel St. Michael Fürth Ernst-Ludwig Vogel. Pressereferent - im Juni 1977