haupt - nur auf dem Dienstweg, schrieben Briefe, die dem
Volk nicht bekannt waren. Manche Angehörige protestierten
verdeckt über Todesanzeigen.
Die Verantwortlichen in Neuendettelsau ließen die Verlegung
von fast drei Viertel aller Pfleglinge (ca. 1.200) in staatliche
Heil- und Pflegeanstalten zu, aus denen heraus dann die
Weiterverlegung in die Tötungsanstalten erfolgte - dies zwar
außerhalb der direkten Verantwortung und ohne weitere
Einspruchsmöglichkeiten der Anstaltsleitung, aber der Weg
war in Neuendettelsau bekannt.
Erst am 3. August 1941 trat die Wende ein: Bischof
Clemens August Graf von Galen prangerte in der
Lambertikirche in Münster die Krankenmorde öffentlich an: Kranke würden umgebracht, „... weil sie nach
dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten
irgendeiner Kommission lebensunwert geworden sind,
weil sie nach diesem Gutachten zu den unproduktiven
Volksgenossen gehören... Hast du, habe ich nur so lange
das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange
wir von den anderen als produktiv anerkannt werden?“
Die Wirkung der Predigt war ungeheuer, der Text wurde hektographiert und sogar von britischen Fliegern
als Flugblatt abgeworfen. Die Verantwortlichen waren
ratlos, eine Erschießung Galens wurde diskutiert, aber
verworfen - Galen hatte erheblichen Rückhalt in der
Bevölkerung. Die Predigt Galens ermutigte mehrere
Bischöfe, die „Euthanasie“ ebenfalls ganz öffentlich
anzuprangern. Der Limburger Bischof Hilfrich schrieb
an den Reichsjustizminister (mit Abschriften an den
Reichsinnen- sowie den Reichsminister für kirchliche
Angelegenheiten): „Alle gottesfürchtigen Menschen empfinden diese Vernichtung hilf loser Wesen als himmelschreiendes Unrecht. Und wenn dabei ausgesprochen
wird, Deutschland könne diesen Krieg nicht gewinnen,
wenn es noch einen gerechten Gott gibt, so kommen diese
Äußerungen nicht etwa von Mangel an Vaterlandsliebe“.
Auch der Berliner Domprobst Bernhard Lichtenberg gehört zu den Protestierenden, abgesehen davon war er einer
der ganz wenigen, die für die verfolgten Juden öffentlich
eintraten. Während Proteste gegen die „Euthanasie“ strafrechtlich ignoriert wurden, brachte ihm das Eintreten für
die Juden eine Gefängnisstrafe wegen Kanzelmissbrauchs
ein, er starb auf dem Weg vom Gefängnis in das KZ
Dachau.
Am 24. August 1941 stoppte Hitler die „Euthanasie“ in
der bisherigen Form. Die Gründe lagen in den bischöflichen Protesten, nach anderen Angaben hielt Hitlers
Sonderzug zufällig bei einem Abtransport geistig behinderter Kinder, deren Angehörige dann Hitler gegenüber
eine drohende Haltung eingenommen hätten. Nach einem
internen Bericht waren bis zum 1. September 1941 genau
70.273 Personen „desinfiziert“ - also vergast - worden,
mit den durch andere Todesursachen Umgekommenen lag
die Zahl der zeitgenössischen Statistik zufolge bei 93.521.
Die Vergasungskammern der „Euthanasie“-Aktion wurden aber weiter verwendet. Beliefert wurden sie nun von
den Konzentrationslagern, die von „Ballastexistenzen“ zu
„befreien“ seien. Die Tötungstechnologie der „Euthanasie“ wurde dann auch zur Vernichtung der europäischen Juden und zur Tötung Geisteskranker aus russischen und polnischen Lagern übernommen, da die bisherigen Massenerschießungen zu teuer, zu aufwändig und den Einsatzgruppen auf Dauer nicht zuzumuten waren. Die meisten Patienten starben nach dem offiziellen „Euthanasie“-Stopp, also zwischen August 1941 und Mai 1945. Die Methoden des Tötens änderten sich, ein Großteil des Personals der Tötungsanstalten wurde aber zur Judenvernichtung abgezogen. Die „Euthanasie“ ging nun in die Hände williger Ärzte, Pf leger und Schwestern in bestehenden staatlichen Heil- und Pf legeanstalten über. Es lag nun im Ermessensspielraum der einzelnen Ärzte, ob und wer getötet wurde. Die „Euthanasie“-Zentrale stellte aber weiterhin Medikamente zum Vergiften zur Verfügung und setzte das bereits erprobte Personal auch gezielt ein. Da es aber in Deutschland nach dem Stopp am 24. August 1941 zu keinen größeren Verlegungen mehr kam, die Morde wohl nur in staatlichen Anstalten stattfanden und während der Verschärfung der Kriegslage weniger auffielen, kam es nur noch selten zu Protesten. Dem schleichenden, dezentralen Mord in staatlichen Heil- und Pf legeanstalten wie Ansbach und Erlangen vermittels Hungerkost und Medikamente fielen zwischen 1941 und 1945 in Ansbach ca. 1600, in Erlangen ca. 1500 „Pf leglinge“ zum Opfer.
"In Gedenken an alle Behinderten, die 1940-1941 unseren Heimen entrissen wurden." Denkmal an der Laurentiuskirche in Neuendettelsau, gegenüber dem Mutterhaus. (Foto A. Mayer).
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