verfasste Weltchronik Chronicon ist eine Hauptquelle für die Geschichte des mittleren 11. Jahrhunderts. Hermann von Reichenau galt als der Universalgelehrte seiner Zeit.
Behinderte und kranke Menschen konnten im Mittelalter nur auf Almosen hoffen, hier eine Darstellung von 1375: Ein Aussätziger mit einer Glocke, ein Stummer und ein Blinder. Repro: A. Mayer.
Zeugnisse aus der Literatur und Malerei weisen jedoch im Allgemeinen auf die untersten gesellschaftlichen Positionen behinderter Menschen hin, da sie vom Wohlwollen übergeordneter Stände abhängig waren. Als Almosenempfänger konnten sie den herrschenden Ständen immerhin geistliche Verdienste bescheren. In Not- und Krisenzeiten wurden sie jedoch als lästige Wegelagerer verjagt. Nur Ordensgemeinschaften nahmen sich in kontinuierlicher Fürsorge behinderter und kranker Menschen an. Im Mittelalter riefen Behinderungen in der Regel nicht Zuneigung und Fürsorge hervor, sondern führten in erster Linie zu rechtlichen Nachteilen. Vielmehr noch: Menschen, die nicht der Vorstellung vom menschlichen Ebenbild Gottes entsprachen oder deren Gebrechen auf eine Verwandtschaft mit dem hinkenden Satan schließen ließen, waren verdächtig, vom Teufel besessen zu sein. Die Überzeugung, ein neugeborenes Kind, das nicht den damaligen Vorstellungen von Normalität entsprach, sei ein ausgewechseltes, von satanischen Mächten untergeschobenes Kind, ein „Wechselbalg“, schmälerte die Überlebenschancen behinderter Kinder. Um satanische Mächte zur Rückgabe des Kindes zu bewegen, wurde geraten, den „Wechselbalg“ mit „geweihten Ruten“ bis auf das Blut zu schlagen, ihm die Nahrung zu entziehen, auszusetzen oder zu töten. Luther empfahl, man solle „Wechselbälge“ und „Kielkröppe“ ersäufen, da ein solches Kind lediglich ein vom Satan in die Wiege gelegtes Stück seelenloses Fleisch („massa carnis“) war. Die teuflische Besessenheit erwachsener behinderter Menschen wurde auch im Rahmen von Hexenprozessen durch die damals üblichen Folterungen „bewiesen“ und dann durch - teilweise äußerst grausame - exorzistische Behandlungsmethoden oder durch Verbrennen geahndet. Meist vertrieb die Obrigkeit „Irre“ und behinderte Menschen aus den Städten und Dörfern. Sie beauftragten Fuhrleute oder Binnenschiffer, diese an irgendeinem Ort auszusetzen. Im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit ging man vermehrt dazu über, betroffene Menschen im besten Falle in Spitäler einzuweisen, eher aber
in Gefängnisse, Narren- und Tollhäuser („Narrentürme“) einzusperren. Die mittelalterlichen Vorstellungen speisten sich aus germanisch-vorchristlichen, antik-heidnischen und christlich-jüdischen Auffassungen. Die antik-heidnischen Quellen legten nahe, dass aus dem Zustand des Körpers ein Schluss auf den Charakter der Seele möglich sei. Unfälle und Krankheiten ungeklärter Ursache wurden aus dieser Linie als Gottesurteile begriffen. Schwerpunkte der ganz frühen „Schwachsinnsforschung“ waren die Alpenländer. Nach Paracelsus (1490-1541) beschäftigen sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vereinzelt Ärzte mit der Erforschung des Schwachsinns. Die Ursachen wurden in seelisch-geistigen Verfehlungen oder aber in körperlichen Erkrankungen gesehen. „Idioten“ wurde noch bis zum 19. Jahrhundert jegliches Seelenleben abgesprochen und insofern von sonstigen Geisteskranken abgegrenzt. Die erste Anstalt für behinderte Menschen entstand lange vor allen anderen: 1533 bis 1542 gründete Landgraf Philipp I. (1504 – 1567) aus dem Haus Hessen, genannt der Großmütige, in drei säkularisierten Klöstern und einer Pfarrei die „Hohen Hospitäler für Alte, Arme, Gebrechliche, Körperbehinderte und Geisteskranke“: Das Kloster Haina und das Philippshospital Riedstadt sind heute noch Zentren für Soziale Psychiatrie, das Kloster Merxhausen wird ebenfalls noch in der Gegenwart als psychiatrisches Krankenhaus genutzt. Philipp I. war einer der bedeutendsten Landesfürsten im Zeitalter der Reformation und der Renaissance, in der sich das Menschenbild wesentlich änderte.
4. Auswirkungen der ideengeschichtlichen Entwicklung In der Renaissance änderte der Humanismus die pädagogische Einstellung der mittelalterlichen Scholastik. Erziehung und Unterricht wurden nun als Kunst gesehen, die dem Kinde entsprechen müsse. Die Reformation stellte jedoch die Arbeit als menschliche Berufung und
Aufklärung und Reformation ändern die Stellung der Gesellschaft zu behinderten Menschen. Einerseits wurden sie entdämonisiert, andererseits sollen nun auch sie einen Beitrag zur Volkswirtschaft leisten: „So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen“. Im Bild die Maschinenstrickerei des Annastifts in Hannover. (Repro: A. Mayer)
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