Miteinander und der Lebensgemeinschaft von Diakonissen und behinderten Menschen stand die Desintegration in der Umwelt und der Gemeinde gegenüber. Die Geschichte der „Anstalt“ als Institution ist lang und weitgefächert. Der Anspruch zu behüten, Schutz vor der feindlichen Außenwelt zu bieten, steht der Gefahr des Einbeziehungsweise Ausgrenzens gegenüber. Die Anstalt bot häusliche Geborgenheit und ein im weitesten Sinne auf dem Familienleben fußendes anstaltliches Zusammengehörigkeitsgefühl, auf der anderen Seite war sie eine Zwangsgemeinschaft mit autoritären Strukturen. Das Konzept der Anstalt des 19. Jahrhunderts definierte die Insassen als unmündig in allen Lebensäußerungen, sie leitete daraus die Verpflichtung ab, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Auch heute noch bedeutet die Anstalt oder das Heim eine mehr oder minder eingeschränkte Verfügungsgewalt über das Selbst. Die Lebensbedingungen in den „Anstalten“ haben sich heute grundlegend verändert, dennoch unterliegen Langzeitbewohner gewissen Einschränkungen: Die Kontakte reduzieren sich auf das Innere der Anstalt oder der Institution, auch wenn eingeschränkte Besuchszeiten und Zensur von Briefen der Vergangenheit angehören. Arbeit und Anstalt waren schon früh verbunden. Arbeit zur Strukturierung der Zeit, des Tages, Arbeit als christliche Pflicht, Arbeit als therapeutische Maßnahme, Arbeit als Schulung und Lehre, als Heranführung zum Arbeitsmarkt. Die Werkstätten für behinderte Menschen von heute sind mit dem Problem konfrontiert, zum einen geschützte Arbeitsbedingungen bieten zu wollen, andererseits am Markt bestehen zu müssen. Die Arbeit soll einen gesonderten Raum außerhalb der Anstalt einnehmen, bot aber lange nur einen weiteren geschlossenen Rahmen ohne Öffnung zum freien Arbeitsmarkt, nach dem Motto: Besser ein Platz in einer beschützenden Werkstatt als arbeitslos. Heime waren und sind für viele nicht nur Durchgangsstationen, sondern oft genug auch „Heimstatt“ und Alterswohnsitz. Das Leben in der „Anstalt“ - später im Wohnheim o.ä. - war für junge Menschen nur die zweitbeste Option. Aber eine Option, auf die wohl auch in Zukunft nicht verzichtet werden kann, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen wie in den ersten 150 Jahren der Behindertenpädagogik.
3. Behindertenhilfe in Neuendettelsau heute In den Einrichtungen der Behindertenhilfe Neuendettelsau leben heute über 1.800 Menschen mit einer geistigen Behinderung, sie werden von rund 1.900 Teil- und Vollzeitbeschäftigten betreut. Die Behindertenhilfe bietet sehr vielfältige Wohnformen an, sie reichen von beschützenden Bereichen bis hin zu Wohnungsangeboten, die in Wohngebiete integriert sind, auch in Form eines selbständigen Wohnens mit Begleitung. Unter dem Leitgedanken „Normalisierungsprinzip“ wurden zentrale Heimstrukturen weitgehend aufgelöst. In Neuendettelsau wird heute als oberstes Ziel die Hinführung des Menschen
mit einer Behinderung zu einem weitgehend selbständigen und selbstbestimmten Leben propagiert. Die frühere strikte Trennung von Frauen und Männern wurde aufgehoben, Wohneinheiten für Paare sind heute im Angebot. „Das Alltägliche muss zum Lernfeld werden, ohne dass es von unseren Bewohnern groß als Therapie wahrgenommen wird“, betonte Diakon Fritz Schwertberger, Leiter im Bruckberger Haus Gottessegen. Ein wichtiges Prinzip sind in den Neuendettelsauer Anstalten die „heterogenen Gruppen“. Jüngere und Ältere, leicht behinderte und schwer behinderte Menschen leben in einer Gruppe zusammen. Eine strikte Trennung der Personengruppen, wie es die Kostenträger immer wieder andenken, würde viel an Lebensqualität in den Wohngruppen zerstören. Reine Schwerstbehindertengruppen würden eine Krankenhausatmosphäre in die Wohngruppen bringen. Die Größe der Einrichtungen ermöglicht bei vergleichsweise geringem logistischen Aufwand ein vielfältigeres vernetztes Therapie- und Förderangebot; die Bewohnerinnen und Bewohner können sich ohne Gefahr im weitläufigen Areal der Heime bewegen; sie können Aufgaben, z.B. Botengänge, wahrnehmen. An den Standorten der Neuendettelsauer Anstalten gehören Menschen mit Behinderung einfach dazu, viele kaufen alleine oder mit Betreuung in den Geschäften ein, werden gekannt - ein Stück Normalität. Die Heime sind Orte zum Leben, ermöglichen schon aufgrund ihrer Bedeutung im Ort den behinderten Menschen auch außerhalb der „Anstalt“ ein erhebliches Maß an Akzeptanz und Normalität. Behinderte Menschen sind hier keine zu vernachlässigende Minorität, die Organisation steht hinter ihnen, kleinere Wohngruppen inmitten der „normalen“ Bevölkerung sind oft in einer schlechteren Ausgangsposition – je nach der Grundeinstellung des Umfeldes. Neben den schon genannten Wohnmöglichkeiten für über 1.800 Behinderte bietet die Behindertenhilfe der Diakonie Neuendettelsau an verschiedenen Standorten über 750 Arbeitsplätze in Werkstätten für Behinderte, zudem spezielle Förderstätten oder Fördereinrichtungen, Seniorenarbeit für Behinderte, Freizeitangebote, Kurzzeitaufnahme, Frühförderung und eine Fachschule für Heilerziehungspflege und -/pflegehilfe. Die Diakonie Neuendettelsau hat eine ganz andere Geschichte, einen anderen Ausgangspunkt und doch letztendlich in vielem dieselben Ziele wie die Lebenshilfe: Integration, Emanzipation und „... die ständige Reflexion und Weiterentwicklung von bestehenden Angeboten in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Beschäftigung, Förderung und Betreuung“.
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