Eine staatliche Unterstützung ergab sich durch das am 1. Juni 1962 (Fassung vom 30. Juni 1961) in Kraft getretene Bundessozialhilfegesetz, es enthielt erstmalig einen Rechtsanspruch auf Hilfen in besonderen Lebenslagen. Für die Träger von entsprechenden Einrichtungen bedeutete es eine erhebliche Verminderung der nicht geringen Risiken, die mit dem Betrieb solcher Einrichtungen verbunden sind.
Für die Eltern bedeutete es, dass für die Unterbringung in Tagesstätten und „beschützenden Werkstätten“ in der Regel keine Kosten mehr anfielen. Anfangs betreute eine Mutter neun Kinder an einem Nachmittag in der Woche in einer privaten Wohnung im Rahmen eines Spielnachmittags. Die Kinder konnten sich an die Gruppensituation gewöhnen und die anderen Mütter waren einmal in der Woche entlastet, so dass ihnen mehrere Stunden Freizeit vergönnt waren.
V. Räume für behinderte Menschen 1. Vollzeittagesstätte Im Frühjahr 1963 stellte die Baugenossenschaft Eigenes Heim der Lebenshilfe einen 60 Quadratmeter großen Raum im Anwesen Friedrich-Ebert-Straße 138 zur Verfügung. Die Eltern tünchten, strichen die Fensterrahmen und verlegten einen neuen Fußboden. Einige Fürther Geschäftsleute hatten mit Spenden die Ausstattung erleichtert. Die Lebenshilfe schaffte ebenfalls mit der Hilfe von Spenden den ersten (gebrauchten) VW-Bus an, in dem ein Vater und eine Mutter abwechselnd etwa 15 Kinder aus dem Stadtgebiet zur Tagesstätte brachten. Die VW-Busse wurden in Fürth ein markanter Werbeträger für die Lebenshilfe. Der provisorische Tagesstättenbetrieb konnte nun in eine Vollzeittagesstätte umgewandelt werden, sie war wochentags von 9 bis 15 Uhr in Betrieb. Am 2. Mai 1963 eröffnete die Einrichtung, die Betreuung übernahmen die von der Stadt eingestellte Jugendleiterin Herta Pönn, eine gerade examinierte Heilpädagogin, und Dorothea Görtz, Mutter eines behinderten Kindes. Die häusliche Isolation der Kinder war durchbrochen, ohne dass sie in einem Heim der Familie und der Außenwelt gänzlich entzogen gewesen wären. Am 16. Mai 1963 besuchten Stadtschulrat Martin Heim und Mitglieder sämtlicher Stadtratsfraktionen die neue Einrichtung. Stadtschulrat Heim wies anlässlich des Besuches auf den experimentellen Charakter der neuen Sonderschule hin, deren Erfolg erst nach einer einjährigen Probephase bewertet werden sollte. Noch war die Fürther Stadtverwaltung nicht voll überzeugt, ob die Lebenshilfe auch das notwendige Durchhaltevermögen aufbringen werde, um eine solche Einrichtung dauerhaft zu betreiben. Vorsitzender Karl Reinmann stellte die Sonderklasse als ersten Schritt dar und umriss die weiteren Ziele, die den Zuhörern eher wie Utopien anmuteten: Man denke an Anlernwerkstätten, an „beschützende Werkstätten“ und eventuell auch an ein Wohnheim für „geistig Behinderte“. Dies alles seien aber noch Zukunftspläne, zuvor müssten endlich gesetzliche Grundlagen für derartige Hilfen geschaffen werden. Hilfe sei bisher nur über das Sozialhilfegesetz möglich. Eltern könnten neben der „großen seelisch-moralischen Last“ nicht auch noch große finanzielle Opfer zugemutet werden. Sowohl Stadtschulrat Heim wie Vorsitzender Reinmann sprachen sich gegen die Heimunterbringung von geistig behinderten Menschen aus. Seinerzeit ging man von etwa 50 geistig behinderten Menschen in Fürth aus.
Nach langwierigen Verhandlungen übernahm die Fürther Stadtverwaltung ab September 1963 neben den Kosten für die Jugendleiterin auch jene für die zusätzliche Kindergartenhelferin (Frau Meews). Die Stadt trug nun zudem die Hälfte der laufenden Kosten mit. Alle sonstigen Anschaffungen musste die Lebenshilfe Fürth tragen.
2. Beschützende Werkstätte Die Idee der Lebenshilfe sprach sich herum, Ängste und Vorbehalte schmolzen bei den Eltern dahin, so dass bald die Anzahl der betreuten behinderten Menschen Anfang 1964 bei 21 lag und im Laufe des Jahres auf über 25 stieg. Der angemietete Raum reichte nicht mehr aus, aber die engagierten Vereinsmitglieder fanden einen aufgelassenen Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt in der Heilstättensiedlung (JakobBöhme-Straße). Die Eltern renovierten die Räume, so dass kostengünstig attraktive Gruppenräume entstanden. Es konnten nun auch Kinder aus dem Landkreis Fürth aufgenommen werden, der im Gegenzug ab 1. August 1964 mit Anneliese Gipp eine weitere Kindergärtnerin finanzierte. Ende 1965 besuchten vier Kinder aus dem Landkreis die Sonderschule. Mit dem Umzug der Tagesstätte in die Jakob-Böhme-Straße war der Raum in der Friedrich-Ebert-Straße wieder freigeworden. Die Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes erleichterten die Einrichtung von „beschützenden Werkstätten“, dieses Projekt wurde ohne großes Zögern in Angriff genommen. Schon am 1. November 1964 begannen acht erwachsene und jugendliche behinderte Menschen unter Anleitung eines Handwerksmeisters mit einer berufsbezogenen Ausbildung; sehr bald kam die Herstellung von End- und Zwischenprodukten im Auftrag von Fürther Spielzeugfirmen hinzu. Es wurden Nadeln sortiert, Papierbögen gefaltet, Spielwaren abgepackt, aber auch für die Radioindustrie Lötpfannen und Spulenkörper komplettiert. Zunächst bei manchen Zeitgenossen eher als Beschäftigungstherapie verstanden, vertrieb die Einsatzfreude und die Begeisterung an der Arbeit bei jedem Besucher althergebrachte Vorurteile über behinderte Menschen, deren Selbstbewusstsein durch diese Arbeit enorm gestärkt wurde, auch deswegen, weil die Arbeit wie die jedes anderen Beschäftigten freitags mit einem Taschengeld entlohnt wurde. Die Leitung hatte
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