Eine Gesamtbewertung der Situation behinderter Menschen
in Ägypten ist aber - wie auch in den vorhergehenden
Abschnitten - von dem Mangel behaftet, dass die Quellen
angesichts der zur Diskussion stehenden großen Zeiträume
spärlich sind. Die meisten Hinweise kommen aus dem königlichen Umfeld und sind von daher nicht repräsentativ. Auf
der anderen Seite kann auch für die altägyptische Zeit das
generelle Klischee widerlegt werden, dass in frühen Kulturen
behinderte Menschen keine Chance und keinen Platz hatten.
Im heute noch bewunderten antiken Griechenland waren
weder die breite Bevölkerung noch die Philosophen und
Wissenschaftler (Ausnahmen: Sophokles und Hippokrates)
behinderten Menschen wohl gesonnen.
Die bedrückendste Reaktion nichtbehinderter auf behinderte Menschen ist wohl die Aussetzung Neugeborener. Sie
war zwar nicht begrenzt auf die griechische Gesellschaft,
ursächlich auch nicht auf Behinderungen begrenzt und abgesehen von Sparta - nicht gesetzlich geregelt. Dennoch
haben humanistisch gebildete Menschen im 20. Jahrhundert
die antik-griechische Neugeborenenaussetzung bemüht, um
die nationalsozialistische „Euthanasie“ zu rechtfertigen.
Selbst nach 1945 konnte ein Hauptverantwortlicher der NS“Euthanasie“ mit solchen Argumenten ein westdeutsches
Gericht zur Einstellung des Verfahrens veranlassen. Dabei
wurde aber neben den schon genannten Unterschieden
geflissentlich übersehen, dass sich die antik-griechische
Kindesaussetzung auf körperlich behinderte und nicht auf
geistig behinderte Menschen bezog, die Hauptzielpunkt der
NS-“Euthanasie“ waren.
Ämter und Würden waren behinderten Menschen im antiken Griechenland in der Regel verwehrt, dennoch sind
ein Priester und mehrere Könige bekannt, die schon bei
Amts- und Herrschaftsantritt behindert waren, wenn auch
im Falle geistiger Behinderung unter Vormundschaft und
Regentschaft standen. Gravierende Stigmatisierungen von
behinderten Menschen waren durchaus üblich, ein Beispiel
war die kultische Einrichtung des Sündenbocks, der bei
bestimmten Anlässen zur Reinigung der Gemeinde unter
Prügeln vertrieben wurde. Hierzu wurden missgestaltete und
behinderte Menschen hergenommen. Diese Vertreibung galt
in allem Ernst und für immer. Behinderte Menschen wurden
bei Feiern reicher Bürger zur allgemeinen Belustigung missbraucht. Etwas Licht in das düstere Bild bringt Hippokrates,
indem er in einer ihm oder seinem engsten Umkreis zugeschriebenen Schrift „Über die heilige Krankheit“ die
Epilepsie entdämonisiert. Die Schrift wandte sich gegen die
Stigmatisierung in erster Linie von Epileptikern, aber auch
gegen eine solche von kranken und behinderten Menschen:
Behinderungen seien nicht Folge von oder Zeichen für
Schuld, kein dämonisches Brandmal, ihre Ursachen lägen
in der Anatomie und in den Funktionen des menschlichen
Körpers.
Im Allgemeinen muss für die antike griechische Gesellschaft
jedoch festgestellt werden, dass Erkenntnis und Moral ihrer
Aufklärer wohl kaum die Mehrheit erreichte. Die Griechen
schätzten im damaligen kulturellen Kontext Wohlgestalt,
verabscheuten Missbildungen und Behinderungen.
Im Römischen Reich dagegen – was verwundern mag fehlten Anzeichen für eine auf gebrechliche und behinderte Menschen konzentrierte gesellschaftliche Diskriminierung. Gebrechen wurde mit relativer Toleranz begegnet, was auch dem griechischen Philosophen Plutarch positiv auffiel. Behinderte Neugeborene und Kinder konnten in Rom vom Vater getötet oder ausgesetzt werden. Das römische Zivilrecht machte hier allerdings Einschränkungen, das Tötungsrecht gilt ab dem 4. nachchristlichen Jahrhundert als erloschen. Behinderte Sklaven wurden nicht selten zum Amüsement am Kaiserhof wie auch in Privathäusern “gehalten”. Plutarch schrieb über die Beinamensgebung der Römer: Die Römer führten „... die schöne Gewohnheit ein, Blindheit und andere körperliche Gebrechen sich nicht zur Schande oder zum Vorwurf zu rechnen, sondern sie wie eigene Namen zu gebrauchen.“ Alfons Rösger, ein Spezialist für Alte Geschichte, schrieb in diesem Zusammenhang: „Uneigennütziger Einsatz für Wohl und Gedeihen des Staates, der res publica, war vornehmste Pflicht eines Römers. Erfüllung dieser Pflicht erfuhr offenbar besondere Anerkennung, wenn sie gegen Hindernisse und Widerstände geschah.“ Spätantiken Quellen lässt sich sogar entnehmen, dass behinderte Menschen sich nicht selbst überlassen wurden, sondern mit öffentlicher Fürsorge rechnen konnten, wenngleich nicht ganz klar ist, ob dies allgemeine Regel war. Von Kaiser Hadrian ist überliefert, dass er den geisteskranken Urheber eines Attentates auf seine Person ganz selbstverständlich den Ärzten zur Behandlung übergab. Es gab jedoch in der Spätantike auch Herrscher und reiche Bürger, die sich sowohl geschmacklose wie auch grausame „Scherze“ und Vorführungen mit behinderten Menschen erlaubten, sich mit diesen Entgleisungen aber nie auf behinderte Menschen beschränkten. Zeitweise war es in der Spätantike „modern“, sich mit behinderten Sklaven zu zeigen, so gab es in der Zeit von Plutarch (ca. 46 bis 120 n. Chr.) sogar einen gesonderten Sklavenmarkt für derartige Bedürfnisse. In Konstantinopel soll es schon 330 n. Chr. ein Heim für körperbehinderte Kinder gegeben haben.
3. Mittelalter und frühe Neuzeit Sowohl aus rechtlicher, medizinischer und religiöser Sicht waren Behinderung und Krankheit eine Minderung des Wertes einer Person, die dieser selbst zur Last gelegt wurde. Der mittelalterlichen Mentalität war es völlig fremd, einen behinderten Menschen ungeachtet seiner Behinderung als vollwertig zu akzeptieren. Einer der ganz seltenen Ausnahmefälle war der Gelehrte und Mönch Hermann von Reichenau (1013-1054), auch Hermannus Contractus genannt, der unter einer umfassenden spastischen Lähmung litt, sich aber nach der üblichen klösterlichen Bildung zu einem herausragenden Kenner von Geschichte, Musik, Mathematik und Astronomie entwickelte: Eventuell geht auf ihn die Einteilung der Stunde in Minuten zurück, die er wohl für astronomische Beobachtungen entwickelte. Seine in lateinischer Sprache
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